„Inklusion konkret – Betroffene berichten“

Hurra, Schnee und Eis sind wieder weg – Erfahrungs­bericht von Werner Fiedler (69 Jahre), seit 20 Jahren blind

Aufatmen, der Winter ist vorbei. Die Gehwege sind wieder schnee- und eisfrei. Das ist für mich ein großer Vorteil. Schneehaufen und eisige Stellen sind für mich als Blinden eine große Sturzgefahr. Daher gehe ich bei winterlichen Straßenverhältnissen langsamer als bei trockener Straße. Ich muss mir mit meinem weißen Langstock Schritt für Schritt den Weg frei machen. Ich erkenne mit meinem hin- und herpendelnden Stock die Hindernisse wie Schneehaufen, Zäune, Mülltonnen oder auf dem Gehweg parkende Autos.

Ein winterliches Gehen auf einem Gehsteig verlangt mir sehr viel Konzentration ab, denn es ist beispielsweise bei einem Grundstück der Gehsteig in voller Breite geräumt. Beim nächsten Grundstück ist nicht geräumt. Dann muss ich wieder über den Schnee laufen. Und beim dritten Grundstück ist nur eine Schneeschaufel-Breite geräumt.

Manchmal kommt es auch vor, dass ein sauber geräumter Gehsteig durch einen vorbeifahrenden Schneepflug wieder zugeschüttet wird, wobei ein größerer vereister Schneebrocken eine gefährliche Sturzgefahr ist. Großes Sturzpotential sind zudem für Blinde (wie auch für Sehende) vereiste Stellen. Ich mag einen guten trockenen Winter gerne. Aber wenn ich spazieren gehe mit meinem Langstock, ist das eine nervige Angelegenheit.

Nun freue mich schon auf das Frühjahr, auf die wärmeren Tage, wenn die Natur wieder sprießt und die Pflanzen wieder zu duften beginnen. Das ist schön und gut. Aber nun kommt leider mein nächstes Handicap als blinder Mensch. Dann wachsen wieder die Sträucher und Bäume über die Gartenzäune und ragen in die Straßen und Gehwege hinein.

Der sehende Mitbürger weicht den Ästen und Zweigen einfach lässig aus. Als nichtsehender Mensch laufe ich aber dann gegen die in Kopfhöhe befindlichen Äste. „Sch…!“ denke ich mir dann. Meistens geht es, bis auf kleine Kratzer an Wange oder Stirn, glimpflich aus, weil ich mir fast immer ein Käppi mit Sonnenschild tief ins Gesicht ziehe.

Doch einmal verhedderte sich ein Zweig im Gesicht und riss mir die Brille herunter; sie fiel zu Boden und ein Glas war herausgebrochen. Die Suche nach Brille und Glas war nicht einfach! Mein schmerzlichstes Erlebnis war, als ich einen quer in den Gehsteig hängenden dornigen Zweig mit meinen Lippen „küsste“.

Angesichts dieser Erfahrungen bitte ich die Grundstückseigentümer, dass sie darauf achten, dass keine Zweige und Äste über den Gartenzaun in den öffentlichen Verkehrsraum wachsen. Von Auto fahrenden Freunden habe ich auch schon gehört, dass sie in engen Siedlungsstraßen bei Gegenverkehr mit der grünen Natur einige Probleme hatten.

Ich gehe gerne spazieren mit meinem Langstock auf den mir bekannten Wegen – und ich freue mich, wenn auch dort die Gehwege so beschaffen sind, dass sie auch für mich möglichst gefahrlos zu bewältigen sind.

Werner Fiedler

und Dr. Anneliese Mayer