Vorweihnachtszeit

Manche Leute haben noch nicht einmal die Koffer richtig ausgepackt.
Die Urlaubsfotos liegen noch ungeordnet auf der Festplatte des
Computers. Die Traditionalisten unter den Urlaubsfotografen warten
auf die Rückkehr
ihrer Diafilme aus dem Labor. Verwaist sind viele Kabinen in den
Bräunungsstudios.

Denn der Großteil der Bevölkerung hat entweder in heimischen
Gefilden oder an fremden Stränden genug Sonne abbekommen, um ohne
alle chemischen Zusätze oder andere künstliche Fremdeinwirkung
einem Pierre Brice als Winnetou oder Angelina Jolie in Tomb Raider Konkurrenz
machen zu können.

Und dann der Schock. Noch wie vom Urlaubsort gewohnt, wo der erste
Weg vom Campingbus zur morgendlichen Dusche führte, schlurft man,
weil sich auch gerade mal die Temperaturen von einem jahreszeitlich bedingten
Kälteeinbruch erholt haben, in bequemen Sandalen zum heimischen
Supermarkt des Vertrauens. Spürt noch einen kleinen Rest feinen
Sand zwischen den Zehen. Passiert mit einem Seufzer die Gemüsetheke
mit den lächerlich kleinen Artischocken und den Obststand mit all
den Früchten, die im Urlaub so neu und so ganz anders geschmeckt
haben.

Und dann steht man auf einmal ohne alle Vorwarnung vor Dresdner Stollen
und Nürnberger Lebkuchen. Immer wieder ist zu beobachten, dass Menschen
in dieser Situation mit ungläubigem Blick auf die Datumsanzeige
ihres Chronometers oder Handys schauen. Oder sich Hilfe suchend an andere
Kunden wenden, spontan nach der Adresse eines Psychiaters oder der Telefonnummer
eines Krisen-Präventionsteams fragen.

Aber was diesen Menschen wie ein Alptraum vorkommt, ist einfach nur
Realität, eine schöne neue Welt, in der die guten alten Jahreszeiten
bedeutungslos geworden sind, weil vor allem zählt, was in den Regalen
der Supermärkte steht. Und da ist jetzt Vorweihnachtszeit, in der
sich Spekulatius und Weihnachtsgebäck auch auf Wühltischen
drängeln.

Aber Vorsicht, Leute! – das darf nicht auf die leichte Schulter genommen
werden. Wer sich jetzt vielleicht mit einem verächtlichen Blick
abwendet und demonstrativ nach einem Sack Holzkohle für‘s
Grillen greift, muss mit unabsehbaren Folgen rechnen. Denn zunächst
brauchen ab Anfang Oktober die ganzen ausgehöhlten Kürbisse
und andere Utensilien für Halloween vorübergehend den ganzen
Platz. Und danach wird in den Supermärkten auch schon langsam für
Silvester, Valentinstag und Ostern vorgeplant.

Weshalb es dann schon mal passieren kann, dass ein verzweifelter Familienvater
eine Woche vor Weihnachten mit zwei herzerweichend weinenden kleinen
Kindern an der Hand von Supermarkt zu Supermarkt zieht. Weil es nirgends
mehr diese herrlichen Geleekringel und Zuckersterne gibt, die immer den
Christbaum geziert hatten und nach der Bescherung von den Kindern akribisch
und mit Entzücken verzehrt wurden.

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Hat der einstige russische
Präsident Gorbatschow oder irgendjemand anders gesagt. Stimmt nicht.
Wer jetzt zu spät kommt, den bestrafen die Supermärkte und
die neue Zeiteinteilung. Vorweihnachtszeit ist für diesen Wirtschaftszweig
halt, wenn Platz dafür in den Regalen und vor allem der Bedarf noch
nicht gedeckt ist.

pebe