… WÄHREND UNS BLATTGESICHTER BEOBACHTEN
Wir steuern auf die mysteriöseste Zeit des Jahres zu – noch gut drei Wochen lang wirds finsterer und finsterer. Die Natur zieht sich zurück, und sie wird erst in einigen Monaten wieder neu zum Vorschein kommen. Für uns wäre es an der Zeit, nachzudenken – und dabei werden wir beobachtet: von geheimnisvollen Blattgesichtern …
Seit Jahrhunderten schauen sie uns an, in ganz Europa, unbemerkt und doch akkurat an und in Kirchen: Augen und Köpfe, umrankt von grünen Blättern, so genannte Grüne Männer (wobei ihr Geschlecht kaum relevant sein dürfte). Am Portal der Martinskirche in Landshut begegnet man solch einem Gesicht. Ob irgendwo in einer Kirche unserer Gemeinde auch? Man müsste sich einmal auf Spurensuche begeben. Meist zieren sie Kapitelle oder Portale.
Diese Blattgesichter oder -masken sind uralt, warum sie vor 1.000 Jahren mit den Kirchenbauten der Romanik und später der Gotik auch in unsere Gotteshäuser gekommen sind, kann niemand so recht sagen. Als abschreckende Beispiele der dämonischen Tier- und Pflanzenwelt? So schreckhaft schauen sie allerdings nicht aus – eher schauen sie zu.
Was der Mensch so macht. Erinnern und mahnen sie uns, dass wir Menschen ein Teil der Natur sind? Dass auch die Natur lebt. Dass wir in der Natur ein Gegenüber haben, das wir durchaus einmal aus dem scheinbar Gegenständlichen heraus als Person, als Gesicht, als Augen auf Augenhöhe betrachten sollten.
Für Hildegard von Bingen wohnt die „Grünkraft“ aller Schöpfung inne. Diese re-ligio, die Rück-Bindung, an diese kreative, uns stets inspirierende Grundkraft spiegelt auch unser dieser dunklen Jahreszeit innewohnendes Bedürfnis nach grünenden Barbarazweigen, nach dem grünen Adventskranz, nach der immergrünen Mistel wider.
Noch wird es einige Zeit finstrer und kälter, noch wird es dauern, bis die vermeintlich abgestorbene Vegetation im Frühjahr sicher wiederkehrt. Währenddessen blicken uns die Blattgesichter an, beobachten uns und fragen: ob wir Menschen es bis dahin verstanden haben werden, ob auch wir die Kraft zur Erneuerung haben – oder ob wir weitermachen wie bisher?
Das Göttliche schaut uns bald aus der Krippe an, wie Christen glauben. Nicht nur, würde Hildegard von Bingen vielleicht sagen.
_Markus Tremmel