Wie bei anderen großen Fragen der Zeit ist es auch hier angebracht, erst einmal auf den Ursprung zu schauen, sich damit zu beschäftigen, wie alles angefangen hat. Und das ist im vorliegenden Fall ausgesprochen einfach, weil das diesbezügliche Material übersichtlich ist und trotzdem aufschlussreich.
Also Trachten gibt es, weil sich mit ihrer Hilfe bestimmte Bevölkerungs-, Standes-, Volks- oder Berufsgruppen von den anderen unterscheiden ließen. Damit aber nicht gleich übertrieben wird, hatten die Herrschenden früherer Zeiten stets ein Auge darauf und verordneten den Untertanen eine strenge und vor allem eher bescheidenere Kleiderordnung.
Von der sie selber natürlich ausgenommen waren. Weshalb dann auch in einem Reichserlass aus dem 16. Jahrhundert gestanden haben soll, dass sich jeder „nach seinem Stand, Ehren und Vermögen“ anzuziehen hätte, damit man den einfachen Mann von der Straße auf jeden Fall nicht mit einem Aristokraten oder sonstigen Frührentner verwechseln konnte.
Wobei es dann natürlich auch noch einen Unterschied machte, ob mit einer bestimmten Tracht eine bestimmte Berufsgruppe kenntlich gemacht werden sollte. Das war nämlich vorrangig in den Städten der Fall, und schon einige Zeit bevor sich bäuerliche Trachten überhaupt entwickelten.
Soweit also alles schön und gut. Doch dann wurde das Oktoberfest erfunden. Oder, wie der Italiener sagt, die „Festa della birra“. Womit die Problematik schon einigermaßen umrissen wäre. Denn in den Anfängen des Münchener Oktoberfestes war das Tragen der Tracht einfach nur Ausdruck dafür, dass der Besucher dies als ein besonderes Ereignis empfand. Und deswegen seine beste Kleidung anlegte, wie er es auch sonntags für den Kirchgang machte.
Doch spätestens gegen Ende des 20. und mit dem beginnenden 21. Jahrhundert veränderte sich dies in einer Weise, dass die Verfasser des Erlasses aus dem 16. Jahrhundert sich jetzt während des Oktoberfestes nur noch wie Windmühlen in den Gräbern drehen. Und das Ergebnis dieser Entwicklung ist auch in diesem Jahr wieder zu besichtigen, wenn sich Besucher von den Fidschi-Inseln ebenso in die Trachtenlederhose „Fridolin“ im Vintage Look oder in das Dirndl „Beatrix“ aus der „Almbock Exclusive Line“ zwängen wie die Physiotherapeutin oder der Sparkassen-Abteilungsleiter mit Wurzeln im badischen oder in Mecklenburg-Vorpommern.
Womit nichts gegen die genannten Regionen, Länder oder Berufsgruppen gesagt sein soll. Und es ist ja auch durchaus zu begrüßen, dass sich die Menschen für ihren Besuch dieses großen Bierfestes besonders anziehen. Doch wenn man dann in diesem Zusammenhang lesen muss, dass Tracht nicht gleich Tracht sei, und Lederhose und besonders das Dirndl als trendiges und – Achtung! – kultiges Kleidungsstück jedes Jahr aufs Neue den aktuellen Mode- und Dirndltrends unterlegen wären, dann ist es doch keine Frage mehr, woher der Wind weht. Denn man hört vor allem lieblich die Kassen klingeln.
Weshalb man die Wiesn-Tracht wohl eher als Umsatz-Förderungs-Programm betrachten und bezeichnen sollte – aber bitte nicht als Tracht. Die wird zum Beispiel in Bayern nur noch zu Fest- und Feiertagen und auf dem Land getragen. Wo sich auch niemand dafür interessiert, ob man ein faltenfreies Dekolleté über Nacht bekommen kann, wie es im Internet angeboten wird.
pebe