… UND DEM ZEITFRESSER VORAUSDENKEN
Ehe wir diesen Text starten, setzen wir einen relativ sinnlosen Satz davor.
Das war er schon, der Vorsatz.
Dem Neuen Jahr, in das wir stets mit großen Sätzen Anlauf nehmen – und dann ist’s doch nur ein kleiner Satz vom Alten ins Neue –, wohnt wie allem Anfang ein Zauber inne. Der Zauber der Erwartung, dass alles besser werden möge, weil wir eine neue Chance bekommen. Tabula rasa – die frisch abgeschabte, unbeschriebene Wachstafel.
Das ist freilich alle Jahre wieder eine Illusion, was soll sich denn ändern vom 31. Dezember auf den 1. Januar?
Wir.
Allein darin liegt die Chance. Doch ehe wir sie wahrnehmen, ist’s schon wieder April, April. Es gibt viele Ideen, warum die Zeit so schnell verfliegt. Die gängigste besagt, dass wir, je älter wir werden, mehr erlebte Zeit bereits hinter uns haben und so die gegenwärtige und künftige Zeit mehr und mehr zu einem Bruchteil der vergangenen schmilzt. Mag sein. Meine Theorie ist anders.
Wir haben verlernt, den Tag zu leben. Erinnerst Du dich noch, wie lange einst die großen Ferien gedauert haben?
Unendlich lange, ein ganzer Sommer lag vor uns! Und heute? Kaum begonnen, schon zerronnen … Als Kinder lebten wir in den Tag hinein, lebten jeden Tag für sich. Und am Abend war’s ein schöner Tag.
Heute sind unsere Gedanken stets weit voraus. Wir haben bereits den nächsten Tag, die nächste Woche im Kopf, die Termine in drei Monaten – noch ehe der heutige Tag vergangen und ge- und erlebt ist. Oder wir platzieren noch den Ärger und Stress der letzten Tage vor die Augen. Und sind so blind für die Gegenwart: genau und ausschließlich die Zeit, die wir zum Gestalten und Leben haben.
Das ist doch gerade der Zauber des Jahresanfangs: dass wieder so viele unbeschriebene Tage vor uns liegen! Schreiben wir sie nicht gleich schon wieder voll! Erleben wir sie – einen nach dem anderen! Natürlich haben wir bereits allerhand Termine für 2023 – aber lassen wir doch die Erwartungen beiseite und uns überraschen! Zu gegebener Zeit, nicht heute. Heute ist heute dran. Vorsätze sind auf die Zukunft gerichtet, Nachsätze auf die Vergangenheit. Kann man beide streichen. Der Satz der Gegenwart ist wichtig. _Markus Tremmel