Es blieb Richard von Weizsäcker vorbehalten, als erster Politiker öffentlich deutliche und neue Worte zu finden. „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, sagte er, ein Jahr nachdem er zum Bundespräsidenten gewählt worden war.
Das liegt 20 Jahre zurück. Und der „Tag der Befreiung“, von dem er sprach, jährt sich heuer zum 60. Mal. Am Morgen des 7. Mai hatte Generaloberst Jodl im Namen des deutschen Oberkommandos die Kapitulation der Streitkräfte im Alliierten Hauptquartier in Reims unterzeichnet. Im Sowjetischen Hauptquartier in Berlin ratifizierten die deutschen Militärs Wilhelm Keitel, Hans-Georg von Friedeburg und Hans-Jürgen Stumpff in Anwesenheit von Marschall Schukow die Kapitulationsurkunde in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945.
Aber ebenso wie man in Deutschland in manchen Kreisen und sogar in Geschichtsbüchern lieber vom „Tag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, oder dem „Tag der bedingungslosen Kapitulation“ sprach und spricht, ist für viele, insbesondere junge Menschen, schwer begreifbar, warum der 8. Mai 1945 ein „Tag der Befreiung“ war und nicht nur das Ende eines Krieges. Eines Krieges, der zwar auch hier in der Region Spuren hinterließ, Leid über viele Familien brachte. Aber in seiner ganzen grausamen Dimension damals trotzdem nur schwer erfassbar war. Und es heute noch weniger ist.
Verständlicher wird Weizsäckers Aussage vielleicht, wenn man in Erinnerung ruft, dass beispielsweise in den Konzentrationslagern Auschwitz, Birkenau und Monowitz 7.000 Häftlinge von der Roten Armee befreit wurden. Wenn man sich erinnert, dass das Leid von geschätzten 12 Millionen Zwangsarbeitern durch die Kapitulation ein Ende fand.
Nach neueren Erkenntnissen wurden während des Zweiten Weltkriegs 11 Millionen Menschen in den Konzentrationslagern des Naziregimes ermordet oder starben durch Misshandlung, Unterernährung oder medizinische Versuche, darunter 6 Millionen Juden. 60 Millionen Menschen kamen bei Kampfhandlungen oder durch Kriegseinwirkung um. Das Ende eines solchen Schreckens kann nur als Befreiung empfunden werden. Es sei den, man gehört zu jenen, die den Rassen- und Größenwahn der Nationalsozialisten teilten.
Doch der 8. Mai 1945 ist nicht nur eine stete Mahnung, es nie wieder zu einem solchen Krieg kommen zu lassen. Er müsste nicht nur als Mahnung und Verpflichtung verstanden werden, auch gegen jeden drohenden oder bereits ausgebrochenen Krieg in unseren Tagen an jedem Ort der Erde Stellung zu beziehen. Der 8. Mai kann auch als Symbol für die Möglichkeit gesehen werden, aus Vergangenheit zu lernen. Die Entwicklung, die Deutschland nach 1945 genommen hat, der Weg zur Demokratie, Wirtschaftsaufschwung und gesellschaftliche Veränderungen belegen, dass diese Befreiung gleichzeitig auch die Chance für einen Neuanfang war.
Und so sollte der 8. Mai vielleicht nicht nur Mahnung sein im Hinblick auf die Vergangenheit, sondern vielleicht auch ein Grund, Bilanz zu ziehen, die Gegenwart kritisch zu beäugen. Das, was wir erreicht haben. Unsere Ansprüche. Die latente Unzufriedenheit. Fehlende Menschlichkeit. Mitunter Teilnahmslosigkeit. Es gibt immer noch viel zu tun. Auch nach 60 Jahren ohne Krieg. pebe