Auf dem Weg zu einer inklusiven Gemeinde

Seit mehr als zwei Jahren beschäftigt sich die Vilsgemeinde mit Teilhabe und Chancengleichheit für alle BürgerInnen. Die entsprechenden Maßnahmen werden in sieben Handlungsfeldern erarbeitet (Arbeit, Bildung, Gesundheit, Öffentliches Leben, Kultur, Vereine-Freizeit-Sport, Bauen & Wohnen). Die Koordination und Zusammenführung der Themen erfolgt in der Lenkungsgruppe. Interessierte Bürger können sich bei Katharina Gaigl im Mehrgenerationenhaus, Tel. 08084 257822, informieren.

Inklusion Lenkungsgruppe 2018
Die Lenkungsgruppe: Ade Geier (Rektor Mittelschule), Gabi Leythäuser (kbo-Sozialdienst), Martin Bauer (Geschäftsleiter Gemeinde), Katharina Gaigl (MGH), Gemeinderat Dr. Christian Aigner, Gemeinderätin Sosa Balderanou-Menexes, Bodo Gsedl (SOVIE e.V.), Günter Mayr (Bauamtsleiter Gemeinde), Gemeinderat Thomas Unterreitmaier, Gemeinderätin Dr. Anneliese Mayer, Tanja Kroker (Gymnasiallehrerin), Rudolf Dengler (kbo-Pflegedienstleiter), Carolin Stanglmayr (Öffentlichkeitsarbeit Gemeinde), Bürgermeister Franz Hofstetter

Das nachfolgende Interview wurde vom Handlungsfeld „Öffentliches Leben“ angeregt.

Inklusion konkret – Betroffene berichten“

„Chantalle“ befindet sich derzeit auf der Frauen-Forensik im kbo Klinikum Taufkirchen (Vils). Um die Privatsphäre der Interview-Partnerin zu achten nennen wir sie nicht beim richtigen Namen.

Was bedeutet Teilhabe am Leben für Sie?

Chantalle: Ich habe die C-Stufe, d.h. ich darf drei Stunden am Tag alleine draußen unterwegs sein. Für mich bedeutet das, dass ich die Natur wieder erleben kann, durch den Wald gehen und die Umgebung mit allen Sinnen aufnehmen kann. Ich kann Gespräch mit anderen Menschen führen. Also auch dort, wo ich Mensch bin, und nicht Patientin.

Kommen Sie leicht mit anderen Menschen ins Gespräch?

Chantalle: Mir fällt es leicht. Ich habe das zum einen in der Therapie gelernt. Zum anderen ist es mir noch nie schwer gefallen, mit Menschen Kontakt aufzunehmen. Seit ich wieder raus darf, kann ich auch z. B. beim Bogen schießen mitmachen oder einfach mit jemanden an der Warteschlage an der Kasse im Supermarkt reden. Es ist wichtig für mich, mit Menschen zu sprechen, das erhöht meinen Selbstwert und gibt mir Kraft. Seitdem ich Patientin bin, werte ich mich selbst oft ab.

Welche Schwierigkeiten treten in Ihrem Leben in Bezug auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auf?

Chantalle: Also Alkohol ist ein großes Thema, auch auf dem Land. Fast egal wo ich hinkomme gibt es Alkohol. Wenn ich am Samstag Abend einkaufe, treffe ich im Supermarkt Leute, von denen viele Alkohol kaufen. Oder beim Dönerkauf wurde mir schon Ouzo angeboten. Wenn ich auf ein Fest am Gemeindeleben teilnehme, ist Bier eines der meistkonsumierten Getränke. Manchmal bin ich auch schon angesprochen ­worden, ob ich mittrinken will. Wenn ich nein sage, kommt der Spruch „Oane geht oiwei“. Wenn ich im Bürgerpark spazieren gehe, treffe ich auf Jugendliche, die kiffen. Für mich ist es eine große Herausforderung, mich davon fern zu halten, weil ich nun ein drogen- und alkoholfreies Leben führen will.

Welche positiven Erfahrungen haben Sie schon gemacht?

Chantalle: Ich habe viele nette Gespräche führen können. Man sieht in einem Ort wie Taufkirchen oft auch die gleichen Leute und die meisten reagieren sehr nett. Ich will auch am Volleyball teilnehmen und in die Kirche gehen. Hier hoffe ich, nett aufgenommen zu werden.

Worauf möchten Sie andere Menschen gerne hinweisen?

Chantalle: Sie sollen mit mir genauso umgehen wie mit allen Menschen.  Zum Thema Alkohol ist es wichtig, dass man akzeptiert, dass einer nicht mittrinken will. Am besten wäre es, wenn man gar nicht aufgefordert wird, mit zu trinken. Ich glaube, dass gar nicht so wenige Leute ein Alkohol-Problem haben und es sich nur nicht eingestehen. Womöglich denken einige „ich bin nicht süchtig, die Suchtkranken sind viel schlimmer als ich …“.

Welche Vorurteile möchten Sie gerne berichtigen?

Chantalle: Von einigen habe ich gehört, dass ich mich nicht so anstellen und halt einfach mit den Drogen aufhören soll. Ein Vorurteil ist, dass man einfach aufhören kann. Doch das geht nicht. Man muss lernen, mit der Sucht umzugehen und das ist ein bleibendes Thema. Es ist auch nicht so, dass alle Suchtkranken dreckige Junkies sind. Viele können die Sucht jahrelang verheimlichen, führen eine Art Doppelleben und nehmen Drogen, um zum Beispiel in der Leistungsgesellschaft zu bestehen und merken irgendwann, dass sie ohne Drogen nicht mehr funktionieren. Man nimmt die Drogen bald nicht mehr zum Spaß, aber das realisiert man erst später.

Was machen Sie, um am Leben wieder teilzuhaben?

Chantalle: Wenn ich in einer Gruppe neu dazu komme, sage ich Bescheid, wo ich herkomme, auch wenn ich mich schäme. Ich hab schon Angst, komisch angeschaut zu werden und habe auch Berührungsängste. Doch ich finde es auch wichtig, ehrlich und offen zu sein.

Was können andere Menschen machen, um Ihnen die Inklusion in den Alltag und das Arbeitsleben zu erleichtern?

Chantalle: Wichtig finde ich, dass wir über Angebote im Gemeindeleben informiert werden. Sehr gut fände ich auch, wenn es in den verschiedenen Vereinen die Möglichkeit gäbe, z.B. 10er Karten zu kaufen, oder nur für ein halbes Jahr oder besser noch für ein Quartal, Mitglied zu werden. Viele von uns Patientinnen sind ja nur einen Teil eines Jahres hier.

Auch wenn es so eine Art Paten aus den Vereinen gäbe, die mit uns die ersten paar Mal gemeinsam zum Angebot gehen, das wäre sehr hilfreich. Die meisten, die zu den Vereinstreffen gehen, kennen sich ja schon gut, und wenn man da von außen dazukommt, fühlt man sich erstmal ein bisschen verloren.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Chantalle: Ich wünsche mir, dass bekannt wird, dass das Thema Sucht in der Mitte unserer Leistungsgesellschaft angekommen ist. Es kann jeden treffen. Das wichtigste wäre wohl, dass wir Menschen uns wirklich füreinander interessieren. Die Hauptprävention ist glaube ich, Gefühle zuzulassen, sich mitzuteilen und sich verstanden zu fühlen. Ich wünsche mir auch, dass man früh in die Präventionsarbeit geht. Das Thema Sucht sollte ausführlich in den Schulen thematisiert werden. Ich wäre bereit, hier mit Sozialarbeitern oder Ärzten mitzugehen und meine Erfahrungen mit den Jugendlichen zu teilen.

Und ich wünsche mir, dass wir uns nicht ständig gegenseitig mit so vielen Erwartungen konfrontieren. Wichtig ist es, das Leben auch zu entschleunigen.

Wir bedanken uns sehr herzlich für das interessante und offene Gespräch und wünschen von Herzen alles Gute!

Das Gespräch führte Katharina Gaigl, Caritas Mehrgenerationenhaus

Hintergrundinformationen

Ungefähr 5% der in Maßregelvollzugseinrichtungen untergebrachten Straftäter sind Frauen. Die Delikte von Frauen unterscheiden sich in ihren Motiven, Tatumständen und der Psychodynamik in vielen Fällen von den von Männern verübten Straftaten. Zudem sind gewalttätige Frauen in der Vorgeschichte oft selbst Opfer von männlicher Gewalt und Missbrauch. Als Konsequenz wurde 1998 am kbo-Klinikum Taufkirchen (Vils) die erste frauenforensische Abteilung in Deutschland eröffnet. Sie bestand zunächst aus zwei Stationen mit 36 Betten. Aufgrund der ständig steigenden Belegung wurde sie mehrmals erweitert und bietet mit Eröffnung des Neubaus 2011 inzwischen als Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie ein differenziertes Angebot für suchtkranke und psychisch kranke Straftäterinnen aus Bayern.

Stufungssystem Forensik:

Die Patientinnen müssen ein Stufungssystem durchlaufen. Dabei wird im Rahmen einer Lockerungskonferenz geprüft, ob die Patientin für die jeweilige Lockerungsstufe geeignet ist. Zusätzlich überprüft dieses Ergebnis im Anschluss  die zuständige Staatsanwaltschaft:

  • Stufe 0:  Kein Ausgang
  • Stufe A: Begleiteter Ausgang im Gelände mit geschultem Personal, später auch in Taufkirchen (Vils)
  • Stufe B: Unbegleiteter Ausgang im Gelände
  • Stufe C: Unbegleiteter Ausgang in Taufkirchen (Vils), Tagesurlaube in ganz Bayern
  • Stufe D: Probewohnen im Sozialen Empfangsraum

Sucht:

Sucht ist eine Erkrankung, die nicht heilbar ist, da das sogenannte Suchtgedächtnis ein Leben lang aktiv ist. Der „richtige“ Umgang mit der Sucht kann erlernt werden. Sie wird jedoch immer ein Bestandteil im Leben des Betroffenen sein. Dies ist dadurch bedingt, dass das Suchtgedächtnis das Glücksgefühl speichert, das durch den Konsum ausgelöst wird. Dadurch erinnert es sich stets daran, dass dies eine schnelle Lösung war, um eine schlimme Situation zu bewältigen. Der Betroffene selbst kann dies nicht steuern, sondern lediglich Möglichkeiten erlernen, andere Lösungsansätze zu erarbeiten und diese dann anzuwenden.

Text: Gerhard Zeidler, Nora Will, kbo Taufkirchen (Vils)